Der Bieler Hof in Floridsdorf – ein urbanes Zeichen der Dankbarkeit und eine Geschichte von meinem Vater

Der Bieler Hof

Bei meinen Spaziergängen mit dem Hund durchs Donaufeld im 21. Bezirk komme ich oft am Bieler Hof vorbei. Der ist einer der schönsten Gemeindebauten aus der Zeit des Roten Wien und mit seiner roten (und gelben) Fassade geradezu ein Fahnenträger für diese Zeit. Lange Zeit wurde er auch die „Rote Burg“ genannt und erinnert mit seinen Erkern, Vordächern und Verzierungen wirklich an eine romantische Burganlage. Am Kinzerplatz gelegen, wurde der Bau in den Jahren 1926/1927 errichtet, sein Architekt war Adolf Stöckl, der für das Bauamt der Stadt Wien tätig war.

Seinen jetzigen Namen hat der Bieler Hof erst im Jahr 1947 bekommen. Damit sollte die Stadt Biel in der Schweiz geehrt werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Hilfsaktion für die Floridsdorfer Bevölkerung eingeleitet hat. Eine Tafel am Gebäude erinnert daran.
Der Bieler Hof steht damit übrigens nicht allein da: auch der Zürcher Hof in der Laxenburger Straße trägt seinen Namen im Andenken an die Hilfe der Stadt Zürich für das hungernde Wien nach 1945.

1945 – Wien in Not

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Not in Wien groß und die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung war in einem katastrophalen Zustand. Die Infrastruktur der Stadt war zerstört, und es war den Menschen kaum möglich, an Nahrung zu kommen. Unmittelbar nach der Befreiung war daher die Lebensmittelversorgung das vordringlichste Problem für die Sowjettruppen. Die Erbsenspenden der Sowjets wurden legendär. Sie konnten aber nur den unmittelbarsten Hunger stillen – und die Wienerinnen und Wiener nahmen vorrangig die Würmer in den Erbsen und die Plünderungen durch Soldaten der Roten Armee wahr.

Im September 1945 begannen die Essensausgaben in der britischen, amerikanischen und französischen Zone. Die Wienerinnen und Wiener hatten danach mit fünf verschiedenen Versorgungsgebieten (der 1. Bezirk war interalliierte Zone und somit auf eigene Art organisiert) und fünf verschiedenen Lebensmittelkarten, die jeweils nur in einem Sektor gültig waren, zu tun.
Die Versorgung war zudem nicht in allen Zonen gleich. Am besten war sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung in der amerikanischen Zone.

CARE Pakete

Die Versorgungslage verschlechterte sich trotzdem weiter, im März 1946 gingen die Zuteilungen von 1.550 Kalorien im Herbst 1945 auf 1.200 Kalorien täglich zurück, im März auf 960. Die Siegermächte kämpften mit Ausnahme der USA darum, ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, dennoch wussten sie, dass sie Österreich nicht im Stich lassen konnten.

In dieser Situation wurden zahlreiche öffentliche und private Hilfsorganisationen aus vielen Ländern aktiv. Bedeutend waren vor allem Aktionen aus der Schweiz, aus Schweden, Dänemark, Großbritannien, den USA, Belgien, den Niederlanden und Spendenaktionen des Roten Kreuzes.
Eine der bekanntesten war die CARE-Aktion („Cooperative for American Remittances to Europe“). Im Juli 1946 trafen die ersten der legendären Lebensmittelpakete in Wien ein.

Schweizer Kinder

Im Rahmen der Kindernothilfe nahmen Schweizer Gastfamilien außerdem Kinder aus Deutschland und Österreich zu mehrmonatigen Aufenthalten bei sich auf. Diese Gastkinder wurden „Schweizer Kinder“ genannt. Mein Vater war eines von ihnen und hielt sich als knapp 6-jähriger einige Monate bei einer Familie in Landquart in Graubünden auf. Er erzählte oft, dass er sich dort sprachlich so rasch und vollständig angepasst habe, dass ihn seine Eltern nach der Rückkehr nach Wien nicht mehr verstanden hätten. Vielleicht wurde ja sein lebenslanges Interesse an Dialekten damals begründet.
Mein Vater und meine Großeltern sind der Schweiz ihr Leben lang mit gutem Gefühl verbunden geblieben. Ich selbst hatte als Kind Schweizer Kinderbücher und war ganz erstaunt herauszufinden, dass meine Wiener Freundinnen die nicht kannten.

Vor wenigen Jahren entdeckte ich am Gitter des Gartenpalais Liechtenstein eine Erinnerungstafel an die „Schweizer Kinder“, die sich dort für die Transporte zu ihren Gastfamilien sammelten. Ich finde es sehr berührend mit vorzustellen, wie mein Vater als Bub von daheim in der Nähe des AKH, wahrscheinlich an der Hand seiner Eltern und mit einem kleinen Koffer, den gar nicht so weiten Weg in die Liechtensteinstraße marschiert ist, um für eine Zeit in die Schweiz aufzubrechen. Was für eine bestimmt sehr aufregende und insgesamt glückhafte Wendung in seinem jungen Leben.

Mir ist jedenfalls die Dankbarkeit geblieben, dass die Schweizerspende meinen Vater, der ein ganz schmaler, dünner Bub war im Jahr 1946, gefüttert und gestärkt hat. Vielleicht wäre ich ja sonst nicht hier.

Der Bieler Hof ist mir darum in seiner Schönheit und Würde auf meinen Spaziergängen ein ganz besonders liebgewordenes Ziel.

Schweizer Spende

In der Schweiz kam es von 1944 bis 1948 unter dem Namen „Schweizerspende“ zu öffentlichen Sammlungen in der Bevölkerung, die damit ihr Solidarität mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck brachte. Am dringendsten war dabei die Hilfe gegen Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit sowie gegen Krankheit. Die Durchführung der Hilfe im Ausland wurde vor allem vom Schweizerischen Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen durchgeführt. In Zusammenarbeit mit der UNESCO unterstützte die Schweizer Spende auch im Bildungswesen durch den Wiederaufbau von Schulen und Bibliotheken und beim Organisieren von Kursen und Stipendien.

In Wien wurden über 120 000 Kinder an Schulen mit warmen Mahlzeiten versorgt. Diese „Schülerausspeisung“ war bei meinen Eltern ihr ganzes Leben lang sprichwörtlich – auch wenn sie, ihren Erzählungen zufolge, mit dem Geschmack des Angebotenen nicht immer einverstanden waren.
1946 erhielten alle Schulkinder in Wien zum Schulbeginn und zu Weihnachten eine Tafel Schokolade.

Bis Ende 1946 fanden folgende Lieferungen der Schweizer Spende nach Wien, Niederösterreich und ins Burgenland statt:
 8700 Tonnen Lebensmittel, Medikamente, Sanitätsmaterial und Arztbehelfe, 
33 000 Kilogramm Textilien
, 25 000 Paar Schuhe. Für tuberkulosekranke Kinder in Wien wurden Aufenthalte in Arosa und Davos organisiert.

Dr. in. Karin Eichhorn-Thanhoffer

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